August Wilhelm Schlegels Unterscheidung des ‘Synthetischen’ und des ‘Analytischen’ Sprachbaus
Pionierleistung der Sprachtypologie oder Sprachphilosophisch-Literaturkritische Reminiszenz?
August Wilhelm Schlegels (1767–1845) 1818 zum ersten Mal vorgetragene Unterscheidung von synthetischen und analytischen Sprachen hat in der Sprachtypologie große Wirkung entfaltet. Sie wird allerdings in historisch gesehen unangemessener Weise aufgegriffen, wenn der geistesgeschichtliche Kontext vernachlässigt wird, in dem sie entstanden ist. Es handelt sich dabei um Schlegels frühromantische Theorie von der Repoetisierung der Sprache, die drei Stufen der Sprachentwicklung annimmt: Jede Sprache ist erstens ursprünglich poetisch, was hier soviel heißt, als daß zu Beginn der Geschichte des menschlichen Bewußtseins alle Vermögen des Menschen – Sinnlichkeit, Phantasie, Verstand usw. – in harmonischer Übereinstimmung gewirkt haben. Sie wird zweitens prosaisch, d.h., sie verliert ihre Poetizität (wenngleich nie völlig) im Zuge ihrer Ausbildung zu Verstandeszwecken. Das heißt drittens jedoch nicht, daß sie nicht wieder poetisch werden könne und solle; genau dies ist Schlegels Anliegen. Er will freilich nicht den Ausgangszustand als solchen wiederherstellen, sondern der Sprache durch eine Synthesis von ursprünglicher Poetizität und Prosa eine neue Qualität geben. Dieses Programm findet seine genaue Analogie in der frühromantischen Literaturtheorie und ihrem Postulat einer ‘progressiven Universalpoesie’, das Schlegels Bruder Friedrich (1772–1829) aufgestellt hat. Während für einen Autor wie Wilhelm von Humboldt (1767–1835) alle Sprachen gleichermaßen wertvoll und in gleichem Maße Gegenstand des Sprachstudiums sind, beinhaltet Schlegels Unterscheidung eine Wertung und impliziert Arbeit an einer Resynthetisierung, das heißt für ihn: einer Verbesserung der Sprache. Die Frage stellt sich, ob Schlegel unter diesem Aspekt zu Recht zu den Gründervätern der vergleichenden Sprachwissenschaft und der Sprachtypologie gezählt werden kann.
Article language: German
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